DAS LAUERNDE REALE
Text von Wojciech Olejnik
In seinen aktuellen Arbeiten verwendet Peter Rollny als Ausgangspunkt Fotografien von menschlichen Figuren und Gegenständen, die er als schwarz-weiße Ausdrucke auf den jeweiligen Bildgrund collagiert. Zuvor setzt Rollny diese Figuren, deren Bestandteile sowohl aus seinem eigenen Bildarchiv als auch aus dem Fundus der Populärkultur wie Zeitungen, Magazinen und Filmen stammen, mit Hilfe von Bildbearbeitungssoftware zusammen. Die so entstehenden Figuren erscheinen als synthetische (vielleicht sogar prothesenartige), organische Assemblagen, so als stammten sie aus einem humanoiden Ersatzteillager. Die Figuren scheinen fremd und ungelenk, evozieren aber – vielleicht durch ihre ikonographische Herkunft – zugleich eine seltsame Vertrautheit. Sie stehen scheinbar ausdruckslos, abgesondert und teilnahmslos im Raum, der ein Sperrwerk abstrakter Markierungen und dichter Farbschlieren ist und unvermittelt auf den Betrachter einwirkt. Diese Markierungen errichten eine dimensionslose Schicht von Farbe, deren latent grautonige Farbigkeit sich in den montierten Figuren und Objekte fortsetzt, sie einhüllt und verwebt. Mitunter scheint die Farbmaterie die Figuren geradezu aufzulösen, erstreckt sich vehement über und gegen deren Konturen. An anderer Stelle wieder schließt sich die Farbmaterie um die Figur wie ein Schatten. In manchen Fällen verhält sich die Farbe wie die Erweiterung einer Figur, verwandelt Teile des Körpers in amorphe, fremdartige Blasen und Tropfengebilde und ergießt sich in den Bildraum.
Der Bildraum jedes Bildes ist von Figuren, Architekturfragmenten und alltäglichen Gegenständen wie Sesseln, Betten und Leuchten besetzt – von Gegenständen also, die ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit vermitteln. In Untitled 3, 2009 ist eine solche häusliche Anmutung überdeutlich, die männlichen Figuren lehnen scheinbar entspannt in ihren Sesseln. Zugleich scheinen Körperhaltung und Blickrichtung auf etwas weit Entferntes gerichtet zu sein. Wie in einem Tagtraum gefangen suchen die grüblerischen Blicke der Protagonisten den Horizont nach etwas ab, das fern jeder sie umgebenden Häuslichkeit ist. Der sie unmittelbar umgebende Raum ist mit einer Hängelampe, einem fließenden Baldachin und einem Wohnwagen versehen. Die Gegenstände, die einerseits einen Hinterhof, Vorgarten oder Auffahrt andeuten, andererseits aber eine innere Häuslichkeit, unterstützen die visuelle Dia-lektik des psychischen Innen- und physischen Außenraumes der Figuren. Zusätzlich weben die abstrakten Pinselmarkierungen eine vertikal gerichtete Schicht, die wie ein über den Horizont gespanntes Dach anmutet, das aber keinen Schutz, keinen Halt zu bieten scheint. So bleiben die Figuren entfremdet, bodenlos und dem Bildraum ausgeliefert. Ein solcher Raum scheint geeignet, das Außen zu markieren, das das fortwährende Sich-nach-Außen-stülpen des Innen darstellen soll. Auf seltsame Weise offerieren die Figuren in diesen Bildern ein stabileres Fundament als der um sie ausgebreitete Raum der Farbe. Man kann die schleichende Präsenz der Figuren, ihren lauernden Ausdruck mit dem Fundamentalen, dem Dauernden, ja in gewisser Weise mit dem Sicheren und Geborgenen gleichsetzen.
Jede dieser Figuren ist das Produkt diverser Einflüsse aus der Populärkultur. Keines dieser Wesen verkörpert eine individuelle Identität, sondern fungiert als Versatzstück und verweist so auf einen allgemeingültigen Typus. Die Figuren repräsentieren so gesellschaftliche und psychologische Stereotypen. Beispielsweise sind die Männer in diesen Bildern stets porträtiert als gut angezogene Individuen mittleren Alters, die ein Buch lesen oder rauchen. Andererseits scheinen die dargestellten Frauen oft gelangweilt, sind leichtbekleidet (manchmal auch nackt), sexualisiert und symbolisieren so möglicherweise das schlechthin Unerreichbare. In sola, 2009 scheinen die Blicke der bekleideten Männer über die Flanke eines weiblichen Körpers zu gieren und unterstreichen damit eine so stereotype wie schale Beziehung zwischen den Geschlechtern. Diese Arten von Beziehung, diese kulturellen Clichés, die gewöhnlich erst von der psychoanalytischen Therapie aufgedeckt werden, scheinen hier physisch manifestiert. Jede dieser Figuren ist rätselhaft und wie aus weit entfernten Erinnerungsschichten gewebt. Dabei scheinen diese Figuren eine Art nicht weiter reduzierbarer Einheit zu personifizieren. Das ist eine Weise der Irreduzibilität, die man in Francis Bacon’s Figuren oder in bestimmten sinistren Gestalten aus Filmen von David Lynch wiederzufinden vermag. Aber zugleich verweisen diese Figuren in ihrer Irreduzibilität auf Jacques Lacan’s Konzept des Rea-len. Gemäß Lacan ist das Reale das, was nicht reduziert oder symbolisiert werden kann, das, was Überschreitung und Exzess seiner selbst ist. Diese Figuren repräsentieren diese Irreduzibilität, den Exzess; sie sind gefangen in ihrer eigenen Disposition und in einer ungelösten Präsenz lauernd, doch scharf umrissen auf der Oberfläche der Bilder.
Die Präsenz der Figuren und Dinge rhythmisiert den Farbraum und veranlasst das Auge des Betrachters vom Einen zum Anderen zu springen. Diese Bewegung wiederholt in den Bereichen der Farbspritzer und Farblachen den Rhythmus der Farbtöne, die wie eine Masse von verstreuten Neuronen durch synaptische Erregungskanäle verbunden scheinen. Rollny folgt diesem Rhythmus offensichtlich nicht nur im Aufbau einzelner Bilder, sondern insgesamt in seiner Arbeit. Er verwendet die gleichen Gegenstände und Figuren in verschiedenen Bildern (manchmal auch im selben Bild). Dennoch erscheinen diese Figuren und Gegenstände jedes Mal abgewandelt. Solche kleinen Veränderungen sind typisch für die kaum wahrnehmbaren Unterschiede, die auftreten, wenn ein Film von Einzelbild zu Einzelbild betrachtet wird. Erst animiert scheinen selbst die sonderbarsten Verschiebungen natürlich und richtig. Auf diese Weise bieten die Figuren eine Vielzahl von verschiedenen Formen des Selben – da die Kontinuität der Bewegung, die Verflüssigung der Zeit ersetzt werden durch die diversen, zumeist zufälligen Umschreibungen dieser Bewegung. Die Figur in einem Bild taucht als ihr Negativ oder als Widerhall ihrer selbst in einem anderen Bild wieder auf. Tatsächlich scheinen die Bilder insgesamt so zu entstehen; oft erscheinen sie als Diptychen oder Triptychen und zeigen verschiedene „Einstellungen“ des selben eingefangenen Augenblicks. In Untitled 1, 2009 beispielsweise sind beide Blätter mit ähnlichen Pinselmarkierungen, Farben und Farbaufträgen überzogen. Jedes Einzelblatt kann als Verdoppelung des anderen Blatts gesehen werden, keines scheint aber Vorrang zu haben. In anderen Arbeiten fordert das Dargestellte eine solche Doppelung geradezu ein, weil es auseinandergerissen scheint und von einem Bildgrund zum nächsten blutet. Solchermaßen trägt bei den Dyptichen jede Tafel zugleich eine vermittelte und eine individuelle Existenz. Jede Tafel offeriert eine derart abweichende Perspektive des selben Raums, dass die Konsistenz und Einheit eben dieses Raumes fraglich wird.
Der schmale Abstand, der die Tafeln trennt, ist ein wichtiger Bestandteil in dieser Arbeit. Da man Muster und Wiederholungen erkennt, wird man auch der nahezu ungreifbaren zugrunde liegenden Differenz gewahr, die sich durch die Arbeiten zieht. Dies ist als der Spalt zwischen den Tafeln sichtbar und ist sogar gegenwärtig in der Methode des Farbauftrags. Im allgemeinen scheint die Farbe eher rasch, vehement und vermutlich aus der Distanz aufgebracht. Die Farbe benötigt nur einen Augenblick, um auf den Bildgrund zu fallen, aber während der kurzen Flugbahn kann die Farbe ihre Form verändern, eine neue Gestalt finden, um dann beim gewaltsamen Zusammentreffen mit dem Bildgrund flachgedrückt zu werden. In Rollnys Malerei ist dieser formende Augenblick nie direkt wahrnehmbar. Nur die Genese und das Verschwinden sind spürbar. Die Figuren sind Produkt eines ungreifbaren Prozesses und scheinen aus dem Nirgendwo zu stammen. Dennoch sind sie von der Zeit gezeichnet, abgearbeitet, farblos, drastisch verformt, geschichtslos und in einem unsichtbaren Moment verdichtet. Dies ist ein Fehlen von Geschichtlichkeit, das an die Sehgewohnheiten bei klassischen Skulpturen gemahnt: kahl und farblos, abgenutzt und mit fehlenden Gliedern. Sieht man sie farbig und restauriert, wie manchmal im Museum der Fall, scheinen sie falsch, weil sie nicht im erwarteten Zustand sind. Für den zeitgenössischen Betrachter ist den Skulpturen die historische und unsichtbare Distanz immer schon eingeschrieben.
Auch in Rollnys Bildern begegnet dem Betrachter nur die unmittelbare Gegenwart. Man kann versuchen, sich zum Beginn zurück zu arbeiten, versuchen, die Umstände herzuleiten und die zugrunde liegenden Figuren wieder herzustellen. Jedoch – wie im Fall klassischer Skulptur – können sie nicht notwendigerweise aufklären, was dunkel, nicht geradebiegen, was gekrümmt scheint. Eine produktivere Annäherung bestünde wohl eher darin, auf das gesamte Werk zu blicken, denn aus dieser Perspektive erhält jede Figur eine eigene Geschichte, da ihre verschiedenen Inkarnationen verschiedene Momente in den verschiedenen Bildern besetzen. Aber es ist unmöglich, einen Zusammenhang auszumachen, dem man folgen könnte und es gibt keinen Weg, zu verstehen, wie die verschiedenen Inkarnationen der selben Figur sich zu anderen Figuren verhalten, welche Vorrang hat oder welche zuerst da war – die Figuren sind stets passiv, stoisch und verschlossen. Dennoch hat jede von ihnen eine dauerhafte Präsenz, selbst wenn dieses Dauerhafte nicht nachweisbar ist. Jede Figur ist gleich einem abkühlenden Vulkanfelsen; man weiss, dass er abkühlt, aber man kann diesen Vorgang nicht tatsächlich wahrnehmen. Die Farbe besitzt in Rollnys Bildern eben diese gleiche Eigenschaft: sie brodelt wie kochende Lava; in fast jedem Bild findet sich das schwarzgetönte Rot, das von einem Bild zum nächsten auskühlt und sich wieder aufheizt. |
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